Das Unfassbare verschriftlicht: Es bleiben viele Fragen offen
Kreisgrüne: Notfallplan der Behörden für Atomkatastrophe lässt Fukushima-Erkenntnisse außen vor / Wer versorgt das Vieh nach zwei Tagen?/ Grundwasserentnahme fraglich / Wie schützen sich die Helfer wirksam?
Meppen/Lingen. Die Fraktion der Bündnisgrünen im emsländischen Kreistag sowie die Ortsvereine Lingen und Meppen der grünen Partei begrüßen, dass der Landkreis Emsland die Auslegezeit für den AKW-Katastrophen-Sonderplan im Kreishaus auf Druck der Öffentlichkeit hin bis zum 7. September verlängert hat. „Was den Plan selbst betrifft, wenden wir uns mit Grausen nach der Lektüre ab. Denn niemand will, dass sich dieser Notfallplan wirklich beweisen muss“, so der Meppener Kreistagsabgeordnete Carsten Keetz, der für seine Fraktion die Akten gesichtet hat.
„Skandalös bewerten wir die Tatsache, dass das Bundesumweltministerium die zu Grunde gelegten vier Jahre alten Rahmenrichtlinien nach Fukushima aktuell nicht überarbeitet hat“, so Keetz. Die aktuellen Notfallpläne im Kreishaus, die gemäß der alten Richtlinien verfasst wurden, könnten so als veraltet bezeichnet werden. Der Landkreis Emsland als untere Katastrophenschutzbehörde sehe sich selbst vom Bundesamt für Strahlenschutz in der Kritik. Für einige Szenarien seien andere, „weitreichendere Notfallplanungen“ gefragt, hieß es dort in einer Stellungnahme. Insgesamt müssen die emsländischen Grünen zudem besorgt feststellen, dass man die Planung des „Worst Case“, also den unmittelbar und massiv Radioaktivität freisetzenden Fall mit all seinen unabwägbaren Folgen in den vorliegenden öffentlichen Unterlagen gar Betracht zieht.
Das ausgelegte Katastrophen-Szenario rechtfertige erneut die Warnungen der Anti-Atomkraftgegner in den vergangenen Jahrzehnten. Das KKW in Lingen müsse – so schnell es verantwortbar ist – vom Netz gehen, so die emsländischen Grünen. Zwei dicke rote Ordner im Flur F des Amtes für Sicherheit und Ordnung im Meppener Kreishaus bergen eine Fülle von Organisationsszenarien für den „Notfall“ – „wie ein GAU (Größter Anzunehmender Unfall) verharmlosend genannt wird“, so der grüne Kreistagsabgeordnete Norbert Knape aus Geeste: Neben `unaufschiebbaren Maßnahmen` und Handreichungen für ehren – und hauptamtliche Akteure lese sich das Ganze wie ein überdimensionaler Beipackzettel.
Es sei jedoch für den kritischen Leser auf rund 400 Seiten (weitere Notfallpläne ständen noch unter Verschluss) ein Katastrophenszenario, das nachdenklich mache, so Knape weiter. Nach parteiinterner Diskussion stellten sich den emsländischen Grünen dringende Fragen im Zusammenhang mit einer möglichen Folge der Havarie des Reaktors in Lingen. Dabei gehe es nicht um Panikmache. Konkret werde man die Bedenken zum „Notfallplan“ der Kreisverwaltung vorlegen:
* Eine Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) zeigt, dass nach Fukushima radioaktive Kontaminationen mit einer Bodenstrahlung von 20 Millisievert noch 170 Kilometer von einem verunfallten AKW eintreten. Das Gebiet der gegenwärtigen Katastrophenplanung ist also viel gering bemessen.
* Die offizielle Broschüre der Katastrophenschutzplanung, die bisher in 30 000 Haushalten in der unmittelbar betroffenen Zone erteilt wurde, muss überarbeitet und sämtlichen Haushalten im Radius von 170 Kilometern zugänglich gemacht werden
* Die AKW-Havarie-Pläne müssen auch in den benachbarten Niederlanden ausgelegt werden, da die Grenze nur 27 Kilometer entfernt liegt und niemand weiß, ob die atomare Wolke vom Wind nicht auch Richtung Westen geblasen wird.
* Die Regelung, dass benachbarte Landkreise wie Steinburg, Cloppenburg oder Ostfriesland eigene Notfallpläne bereithalten, muss auf alle Landkreise in Niedersachsen, NRW und Hessen ausgedehnt werden, um weitergehende Evakuierungen möglich zu machen.
* Die vorgesehen Evakuierungsstraßen für die Mittel- und Zentralzone aus den betroffen Gebieten um Lingen können aufgrund von vorhersehbaren Situationen wie Unfällen, stehengebliebenen Fahrzeugen usf. zu regelrechten Nadelöhren mit langen Staus werden. Gibt es diesbezüglich weitere Planungen zur Lenkung und Regelung des Straßenverkehrs, besonderes der parallel zu erfolgenden Lenkung der Rettungs-, Bergungs- und Dekontaminationszüge ?
* Falls der GAU während der Schul- bzw. Kindergartenzeit auftritt, ist geplant, die Schüler je nach Intensität und Vorwarnzeit entweder geordnet nach Haus zu entlassen oder in Evakuierungszentren zu bringen. Gibt es entsprechende Planungen, die der der Landesschulbehörde bzw. den Schulträgern bekannt sind?
* In der weiteren Schutzverordnung steht, dass sich die Menschen am besten in Kellerräume oder nicht verglaste Zimmer zunächst zurückziehen sollten. Gilt daher für nicht unterkellerte Häuser und Häuser mit vornehmlich verglasten Fronten, dass sich die Bewohner unverzüglich auf den Weg aus dem Gefahrengebiet machen sollten ?
* In welchem Umfang sind für Strahlenopfer Betten geplant, insbesondere in weiter entfernt liegenden Krankenhäusern.
* Die gefährdete Außenzone mit dem Radius von 25 Kilometern verläuft direkt in Meppen, endet ungefähr südlich der 402. Können beispielsweise die Bewohner vom Stadtteil Versen, der nicht im 25 Kilometer-Radius liegt, entsprechende Warnungen ignorieren ?
* Das Katastrophen-Lagezentrum des Landkreises im Süden der Kreisstadt liegt möglicherweise im Strahlungsbereich der atomaren Wolke. Ist das Gebäude und sind somit die darin befindlichen Personen geschützt gegen atomaren Fallout ? Gibt es ein vergleichbares Ausweichquartier?
* Sind die zahlreichen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer von THW, Feuerwehr, Polizei, Bahn, Sraßenverkehrsamt etc. durch entsprechende Ausrüstung ausreichend geschützt und vorbereitet ? In welcher Anzahl werden entsprechende Ausrüstungsgegenstände und Kleidung vorgehalten?
* Zur Wasserversorgung von Mensch und Tier gibt es im Plan Widersprüchliches zu lesen. Auf der einen Seite wird gewarnt offen liegende Gewässer zu nutzen, an anderen Stelle wird betont, dass tiefer liegendes Grundwasser nicht betroffen sei. Ob und in welcher Intensität bei welcher Strahlenbelastung auch das Grundwasser auf Jahrhunderte verstrahlt werde, bleibt offen.
* Offen bleibt auch die Frage, wer sich nach einer Evakuierung und in welchem Zeitraum um das zurückgebliebene Vieh kümmern wird. Eine Versorgung mit unverstrahltem Futter sei zunächst für zwei Tage sicher zu stellen. Welche weitere gehenden Planungen gibt es ?
* Liegen Evakuierungspläne für öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser, Altenheime, Behindertenwohnungen oder Justizvollzugsanstalten im atomaren Ernstfall vor?
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